Kinderängste - Elternängste
Jeder Entwicklungsschritt, speziell in der Kindheit, wird begleitet von Angst. Allzu oft versuchen wir – die Erwachsenen -, Kinder
vor Situationen zu schützen, die ihnen Angst machen. Nicht selten wollen wir uns sogar selbst weismachen, dass die kindliche Welt voller
Glück ist und Angst(-momente) nicht kennt.
Gefühle der Angst zu meiden, nicht zuzulassen oder auszureden, führt jedoch nicht dazu, Angst als natürliche Emotion kennen zu
lernen und mit ihr umgehen zu lernen.
Hier sollte aus meiner Sicht elterliche Begleitung ansetzen. Es ist für die Kinder wichtig, sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen,
sie kennen zu lernen und sich ihnen zu stellen. Das können sie aber nur, wenn wir als Erwachsene die Wirklichkeit ihrer Ängste
anerkennen, wenn wir versuchen mitfühlend zu verstehen, wie es ihnen in der Konfrontation mit ihren Ängsten geht und wenn wir sie darin
unterstützen, Rüstzeug zu entwickeln, mit dem sie die Angst als Partner akzeptieren und nutzen lernen. Denn Angst führt auch zu Mut
und Stolz, wenn sie überwunden wird!!
Wovor nun haben Kinder Angst? Sie haben Angst vor dem Alleinsein bzw. vor dem Verlassen werden. Sie haben Angst vor Ablehnung und
Liebesentzug, Angst davor, die Eltern könnten sich trennen. Sie haben Ängste, die den eigenen Körper betreffen und sie erzählen immer
wieder Träume, die ihnen Angst machen. Kinder haben Angst vor Dunkelheit und vor dem Einschlafen.
Die Ängste der Kinder unterscheiden sich kaum von denen der Erwachsenen.
Kinder erleben ihre Ängste allerdings sehr oft sehr viel intensiver noch als Erwachsene und fühlen sich ihnen noch stärker ausgeliefert,
ähnlich einer Nussschale, die auf dem aufgewühlten, offenen Meer hin und her geworfen wird. Kinder sind von ihren Ängsten zuweilen ganz
besetzt und ausgefüllt.
Kinder "sind ihre Ängste" mit Haut und Haaren, während Erwachsene Ängste haben. Erwachsene können ihre Ängste reflektieren, sich
von ihnen distanzieren, ihnen einen bestimmten Platz einräumen oder auch zuweisen, sie können ihre Ängste kontrollieren und sogar
ignorieren. Sie können mit ihrer Angst ein ernstes Wörtchen reden und sie können ihrer Angst gut zu reden. Sie können sich Mut machen
und sich trösten. Sie können all dies, weil sie schon viele Erfahrungen mit Angst gesammelt haben und dadurch ein Gespür dafür haben,
wie sie mit ihren Ängsten am Besten umgehen, um sie zu besänftigen und um ihnen einen hilfreichen Platz einzuräumen. Sie wissen genau,
ob sie eher streng sein müssen mit ihnen oder eher einfühlsam sein und darauf eingehen dürfen.
Kinder haben noch nicht so viel Erfahrung mit ihren Ängsten und oft entzieht sich ihnen auch der Grund dafür, warum sie Angst haben.
Während der Erwachsene Ursachenforschung betreiben kann und aufgrund seines Erfahrungsschatzes dann auch zu Schlüssen kommen kann,
woher die Angst kommt, ist das Kind darauf angewiesen, dass wir es darin unterstützen, Gründe für seine Angst zu finden und vor
allen Dingen den Bedeutungsrahmen um die Angst herum so verändern zu helfen, dass das Kind mit der Angst weiter leben kann und es nicht
von ihr blockiert und vom Leben abgehalten wird.
Was aber, wenn sich ein Kind nicht wahrgenommen und verstanden fühlt mit seiner Angst? Oder noch schlimmer, was, wenn Eltern die
ureigensten Bedürfnisse ihrer Kinder gar nicht wahrnehmen oder erkennen und deshalb Bedingungen schaffen, die das Kind überfordern
oder unterfordern? Haben die Kinder deshalb Angst, weil die Bedingungen nicht kindgerecht oder nicht altersgemäß sind, dann werden die
Eltern natürlich auch kaum einen Zugang zu den Ängsten ihres Kindes bekommen, weil diese ja darauf beruhen, dass nicht gut für sie
gesorgt ist. Kinder behalten Ängste, die solche Wurzeln des elterlichen Nichtwissens haben, für sich, schon allein auch deshalb, weil
sie sich ein gutes Elternbild bewahren wollen. Kinder fühlen sich paradoxerweise im schlimmsten Falle sogar noch schuldig dafür, dass
sie solche Ängste haben. Sie machen diese Ängste oftmals mit sich aus. Für das Kind fühlt sich das an, als ob es sein Haus mit einem
Tiger teilt. Tiger sind unberechenbare Raubkatzen, sie reißen auch dann, wenn sie gar keinen Hunger haben. Sie können sich vorstellen,
wie diese inneren Empfindungen, den Alltag des Kindes dann mitbestimmen. Wer Angsterregendes von außen oder innen nicht steuern kann,
kann kein selbstbewusstes Eigengefühl entwickeln. Kindliche Ängste zeigen sich dann als Ausweg oft indirekt über Bilder, die sie aus
dem Inneren heraus kreieren. Die Kinder haben dann Angst vor Hexen, Wölfen, Gespenstern, vor Handschuhen, vor der Dunkelheit, vor Blut, vor
bärtigen Männern, vor scharfen Gegenständen, vor Zwergen und Riesen oder gar vor Kröten und Ratten. So beklagte sich einmal eine
alleinerziehende Mutter bei mir recht unwirsch und ungeduldig über die Ängste ihres Kindes. Ihre Tochter habe eine recht rege Fantasie.
Es sei furchtbar, was sich ihr Kind so alles zusammenreime. Sie wundere sich, wo es all diese Geschichten und Spinnereien her hat.
Sie habe gar keine Lust, sich mit diesen Hirngespinsten zu befassen. "Immer wieder sage ich ihr, es gibt keine Hexen oder du
brauchst keine Angst haben vor irgendwelchen Drachen und Ungeheuern, trotzdem hört das Kind nicht auf, sich an mich zu klammern,
sobald ich zuhause bin. Also von mir hat sie das nicht. Auch kann sie ohne mich nicht einschlafen. Aber wenn ich müde von der Arbeit
komme, möchte ich nicht gerade die restliche Zeit im Bett meiner Tochter verbringen. Wenn ich es tue, schlafe ich meist selbst
ein und der Abend ist für mich gelaufen."
Über mein Nachfragen stellt sich heraus, dass das 8-jährige Mädchen über weite Strecken des Tages auf sich allein gestellt ist. Es
schaut über Stunden fern und das kreuz und quer, nicht nur, wenn die Mutter nicht da ist, sondern auch, wenn die Mutter da ist und
es schaut immer allein. Es nimmt offensichtlich viele Bilder und Geschichten in sich auf, für die es noch nicht reif ist. Ich
versuchte der Mutter einerseits zu vermitteln, dass Kinder in diesem Alter immer auch noch auf die Anwesenheit von Erwachsenen
angewiesen sind oder mindestens auf das Gefühl, von ihnen gesehen zu werden, in dem, was ihre Situation ausmacht.
"Haben Sie denn Ihrer Tochter schon einmal gesagt, wie dankbar Sie sind, dass sie das alles so gut mitträgt und dass Sie
eigentlich wissen, dass sie damit noch überfordert ist? Haben Sie ihr dafür schon einmal als Ausgleich eine besondere Art der
Zuwendung angeboten? Komm, heute am Samstag lassen wir es uns einmal ganz besonders gut gehen. Ich möchte dich massieren, mit dir
ins Schwimmbad gehen, einen Ausflug mit dir machen, hören wie deine Woche war… ."
Zum Anderen versuchte ich ihr zu sagen, dass es besser wäre, mit dem Kind fern zu sehen. Oftmals bräuchten die Kinder
Unterstützung, um das, was sie am Bildschirm erleben, verarbeiten zu können. Im ersten Moment war die Mutter nicht in der Lage diese
Handlungsangebote von mir aufzunehmen. Sie war ganz gefangen noch von dem komischen Gebaren ihrer Tochter, das ihr Nerv und Zeit
raubt und zu dem sie dazu auch noch keinen Zugang findet.
"Manchmal denke ich schon, dass sie regelrecht eine Angstkrankheit hat. Sie kann z. B. nur noch tagsüber aufs Klo. In der Nacht
vermeidet sie es, wie der Teufel das Weihwasser. Auch muss sie sich den ganzen Tag immer wieder die Hände waschen, weil sie das
Gefühl hat, etwas angefasst zu haben, was sie dreckig macht."
Ich könnte dieser Mutter sagen: "Das Kind will eben mit seinem Tagesbewusstsein kontrollieren, was es wieder hergibt. Da scheint
soviel Unverdautes dabei zu sein, was ihr Angst macht, dass sie sich ihrem Körper nicht einfach anvertrauen kann. Das Kind kommt
ja auch mit so vielen Dingen in Berührung, denen es noch nicht wirklich gewachsen ist, dass es verständlich ist, dass es diese am
liebsten wieder abwaschen würde, um sie wieder loszuwerden. Das Kind bräuchte eindeutig Ihre wache Aufmerksamkeit als Mutter
beim Verdauen dieser Erlebnisse, die es hatte und ebenso beim Bewältigen der Empfindungen, die es innerlich umtreibt. Natürlich
bräuchte es auch einen mehr Halt und Wärme gebenden Rahmen." Es ist schwer, einer Mutter dies zu vermitteln, ohne ihr
Schuldgefühle zu machen und ihr das Gefühl zu geben, dass sie eine schlechte Mutter ist. Im Grunde muss sie es Schritt für Schritt
für sich selbst entdecken. Aber vielleicht wäre die Mutter am Ende froh, wenn sich ihr die Zusammenhänge erschließen würden, um
die Angst ihrer Tochter herum. Denn möglicherweise hat die Mutter gerade einen solchen Anspruch, es mit dem Kind alleine schaffen zu müssen,
die Aufgaben von Zweien übernehmen zu müssen und niemand sonst zu brauchen, dass sie sich selbst auch viel zu hart "an die
Kandare" nimmt.
Die Kinder sprechen also in Bildern und Handlungen zu uns, die zunächst nicht unbedingt die Verbindung zu ihrer eigentlichen Angst
offenbaren. Wir müssen hinhören, die Zeichen unserer Kinder aufmerksam wahrnehmen lernen und dürfen nicht alles, was sich in unserer
erwachsenen Welt nicht gleich einordnen lässt, als Fantasiegebilde abtun. Wir dürfen die Bilder der Kinder aber auch nicht einfach mit
unseren Bedeutungsgebungen überfrachten, sondern wir können sie dem Kind nur anbieten und müssen warten, wo unsere Versuche von Seiten
des Kindes bestätigende Resonanz finden. Kinder plagen Verlustängste, Angst vor Selbständigkeit, Angst, sich schmutzig zu machen, Angst
vor Körperkontakt, vor Fehlern, vor Krankheit und Tod, entführt zu werden, manchmal auch vor Schule, vor Prüfungen, vor Zahnarzt,
davor, zu schnell zu wachsen oder vor Zurücksetzung. Sie haben Flugangst, Angst vor der Angst, vor Monster, vor Gespenstern, vor
Ungehorsam, vor Gewitter und Donner, vor scharfen Gegenständen, vor Handschuhen, im Dunkeln, vor einem Umzug, davor, zu kurz zu
kommen oder auch Angst vor medizinischen Eingriffen. Wenn sie Angst haben, haben sie eine flaue Leere im Bauch, schwabblige Knie,
starkes Herzklopfen und sind begleitet von unruhigen Gefühlen rund um die Angst. All das gehört in den Alltag von Kindern, ohne
dass wir gleich Schlimmstes befürchten müssten. Wenn wir uns den Ängsten der Kinder zuwenden, lösen sich die meisten recht schnell
wieder auf.
Werden die Ängste der Kinder anerkannt, bilden sie im Laufe ihres Lebens dann ihre je besondere Art des Angsterlebens aus und
entwickeln ebenso ihre individuellen Strategien, mit ihren Ängsten und ihrem Angsterleben umzugehen, wie der Erwachsene auch. Sie
entwickeln also ihre je eigenen Angst- und Situationsbewältigungsstrategien.
Elterliche Haltung allerdings kann Angstbewältigung behindern. Was Kindern sicher nicht gut tut, wenn Eltern sie dazu auffordern,
ihre Angstgrenzen zu ignorieren und allzu mutig zu überschreiten. Es ist aber genauso ungünstig, wenn Eltern ihren Kindern nicht
zutrauen, dass sie mit ihren Ängsten fertig werden und einen kreativen Umgang mit ihnen finden. In der Biografie eines jeden Kindes
gibt es auch entwicklungsbedingte und milieubedingte Angstsituationen, die das Kind zu bewältigen aufgerufen ist. Manchmal sind
diese Situationen auch so angelegt, dass sie das Kind überfordern und es sie alleine nicht zu einer guten Lösung führen kann.
Hier braucht es elterliche Hilfe, bleibt sie aus, fühlt sich das Kind in seiner Angst gefangen. Wenig hilfreich sind auch Eltern,
die überbehüten und dem Kind keinen Erprobungsraum zubilligen, in dem es altersentsprechend Erfahrungen machen kann, Eltern, die ihr
Kind sehr eng an sich selbst binden, weil es sie vor eigenen Ängsten beschützen soll oder aber auch Eltern die ihrem Kind keinen Halt
und keinen haltgebenden, überschaubaren Raum, - der vom Kind bewältigt werden kann -, zur Verfügung stellen und das Kind sich
angstvoll in der Unbegrenztheit verliert. Auch fehlender Körperkontakt oder emotionale Leere kann ein Kind in der Angstbewältigung
behindern.. In solchen besonderen Situationen, kann es geschehen, dass die Angst ein solches Ausmaß erreicht, dass sie ein normales
Leben, einen normal gelebten Kinderalltag nicht mehr zu lässt. Schließlich wird die normale, gesunde Reifung des Kindes ja behindert.
Nicht selten schützt das Kind die Eltern und sich selbst dann mit Nicht-Sehen, was zu einer Verschiebung der Ängste führen kann. Dann
behindern die Ängste die Entwicklung, werden neurotisch oder pathologisch und verlieren ihre lebenserhaltende Schutzfunktion, sie
können sogar das Kind in diesem Zustand schwächen, bedrohen und einschüchtern.
Nicht geliebt, angenommen, in der eigenen Entwicklung unterstützt und bestätigt zu werden, macht Kindern Angst. Sie betteln dann
um Zuwendung und darum, gesehen und erkannt zu werden von den geliebten Eltern – wenn nötig mit destruktiv-störendem Verhalten.
Spätestens dann schaffen es die meisten Eltern Gott sei dank, sich Hilfe zu holen, um besser zu verstehen, was in ihren Kindern
vorgeht. Und das ist auch gut so.
Kinder verarbeiten oftmals ihre Angst, indem sie die Angstsituation immer wieder neu durchleben. Immer wieder wollen sie sich
das Erlebte erneut erfahrbar machen und variieren dabei den möglichen Ausgang. Das wiederholte Durchleben der Angst auslösenden
Ereignisse kann dann ganz verschiedene Formen annehmen. Die Kinder sind so kreativ, dass sie einfach die Rollen wechseln um in eine
andere Gefühlslage zu kommen. So kann ich mich an einen 7-jährigen Jungen erinnern, der bei mir in Therapie war. Er musste wegen
einer Phimose, einer Vorhautverengung, die ihm zu schaffen machte, im Krankenhaus operiert werden. Zur nächsten Therapiestunde kam
er zur Tür herein und verkündete mir sogleich, dass wir heute Krankenhaus spielen, er heute Oberarzt sei und ich mich doch schon
einmal aufs Bett legen und mich frei machen soll (so tun als ob natürlich). Er sägte mir im Spiel den Kopf auf, nahm mir die Kniescheiben
heraus, schnitt mir den Bauch auf und hörte gar nicht auf, an mir herum zu operieren. Dabei musste ich auf seine Anweisung hin die Augen
geschlossen halten. Er tat dies mit einer solchen Vehemenz, dass ich mich bei ihm vergewissern musste, dass es auch wirklich bei den
symbolischen Handlungen bleibt. Ich rief dann um Hilfe, wollte, dass der Chefarzt kommt, spiegelte ihm wie ohnmächtig und hilflos ich
mich fühle, zeigte ihm meine Angst und rief, er solle jetzt doch bitte aufhören. Gnade, Gnade, rief ich ihm zu, aber der Oberarzt hatte
kein Ohr für meine Anliegen und machte einfach weiter. Er wollte mein Bitten und Flehen einfach nicht erhören. Irgendwann bin ich
dann nach der Operation im Rollenspiel erschöpft eingeschlafen. Es war interessant zu sehen, wie Florian durch den kreativen Rollenwechsel,
sich selbst in die Situation des mächtigen Arztes brachte, der gar kein Gespür für seinen kleinen Patienten hat und wie er mich in die
Rolle des Patienten einlud, der ihm vorspielt, was man alles für Gefühle hat, wenn man in eine solche Situation kommt. Er konnte durch
dieses Spiel praktisch aus der Distanz noch einmal seine Gefühle durchleben bzw. zusehen, wie sie ein anderer durchlebt. Damit haben sie
ein klein wenig ihren Schrecken und ihre Mächtigkeit verloren. Die Macht der kindlichen Ängste verliert sofort an zwingender Größe, wenn
die Angst dargestellt oder versprachlicht werden kann. Kann das Kind dann auch noch die Ohnmachtssituation gegen die mächtige Rolle
tauschen, dann ist mindestens eine gesunde Verarbeitung in Gang gesetzt worden. Zum Abschluss hat mir der Junge dann noch erzählt, dass
alles gar nicht so schlimm war. Er musste also nur das mächtige Gefühl des Ausgeliefertseins noch einmal nachspielen, um die Operation
Geschichte werden lassen zu können.
Sie haben jetzt ein Beispiel dafür kennen gelernt, wie Kinder die starken Eindrücke verarbeiten, die Spuren der Angst hinterlassen.
Sie äußern das Erlebte im Spiel und in ihren Geschichten, oder lassen sich beim Verarbeiten helfen (Was haben wir gemacht? Und was
ist dann passiert? Und wer hat mir geholfen? Warum ist da solange niemand gekommen? Was hab ich dann gemacht? Hab ich geschrien? Hat
es geblutet? usw.) oder sie reagieren darauf auch mit Verhaltensauffälligkeiten, Schlafstörungen, gestörtem Essverhalten, schlechter
Konzentration oder mit besorgniserregenden Schulresultaten. Indem wir beobachten, was sie tun, können wir die einzelnen Kinder im
nochmaligen Durchleben eines Erlebnisses besser verstehen. Schlimme Erfahrungen können auch dann zu Verstörungen oder zu auffälligem
Verhalten führen, wenn uns das Verstehen gelingt. Denken Sie bitte immer daran, vom Kind her betrachtet, ist auch ein solches Verhalten
der Versuch einer Lösung und kein Verhalten, das den Eltern Böses will.
Kinder sehen Bilder vor sich, schrecken plötzlich auf, haben Furcht erregende Träume, finden keine Ruhe, laufen sich selbst davon,
spielen Spiele, in denen immer wieder Fragmente des Erlebten auftauchen. Das Bild der Freundin, die von einem Auto erfasst wurde
und mit geschleudert wurde, taucht immer wieder auf, auch in der Schule beim Lernen. Oft reagieren die Kinder auch mit Angst- und
Wiederholungsträumen. So träumt ein Kind davon, wie es versucht als Feuerwehrmann den Flammen Herr zu werden. Oder ein Kind träumt
davon, auf einem viel zu großen Pferd zu sitzen, es hat Angst, diese Lebenskräfte nicht bändigen und führen zu können. Das Pferd brennt
durch, stellt sich auf die Hinterbeine. Das Kind wacht schweißgebadet auf. Ein Kind sitzt Nacht für Nacht in einem Boot, das einen
reißenden Wildbach stromabwärts fährt. Mit Mühe kann sich das Kind über Wasser halten und die Wirbel mit seinem Paddel umschiffen
helfen. Regelmäßig kommt es dann aber an einen Wasserfall, dessen Rauschen es lange vorher schon hört und mit letzter Kraft versucht es
sich dann am Ast eines schon etwas morschen Baumes festzuhalten, der dann doch regelmäßig bricht. Während des freien Falls wacht das
Kind dann meist schreiend auf. Aus dem Hochhaus fallen und fallen und fallen und fallen,….schweißgebadet aufwachen vor dem
Aufschlagen….ist ein anderes Traumbild von dem ein kleines Mädchen lange Zeit geplagt wurde. Nicht selten entwickeln die Kinder
dann Angst vor dem Einschlafen. Das alles können Signale dafür sein, dass sich das Kind bei sich selbst und in seinem Körper nicht mehr
wohl fühlt.
Alle Menschen, Kinder im Besonderen, sind durch traumatische Erfahrungen verwundbar. Kinder, die von Natur aus schon ängstlich sind,
werden durch beängstigende/sorgenvolle Geschehnisse besonders/noch tiefer getroffen.
Manche Erwachsene denken, Kinder könnten schnell vergessen und schmerzliche Erinnerungen würden bald wieder verschwinden. Aber das ist
nicht immer richtig. Kinder sind eigenständige, empfindsame Persönlichkeiten. Ernste Vorkommnisse in ihrem Leben stören ihre gesunde
Entwicklung. Ein Risiko bleibender Verwundung, z.B. Entwicklungsverzögerungen bzw. – beeinträchtigungen besteht immer.
Was aber den Kindern tatsächlich hilft bei der Angstbewältigung und bei der Angstverarbeitung ist ihre Fantasie. Das Kind hat das
Vermögen - angestoßen durch äußere Wahrnehmung - ein fantasiertes Bild zu entwerfen. Ebenso können die Kinder Traum- und Gedächtnisbilder
aufsteigen lassen. Die Einbildungskraft ermöglicht es, abwesende Dinge und vergangene Ereignisse, zu vergegenwärtigen oder auch über
Bilder die eigene Befindlichkeit und Situation zu erzählen, die sich nicht direkt ausdrücken darf und kann. Fantasie oder auch
Imagination ist erkenntnisreich, sie kann spielerisch und psychisch wirken. Wenn wir die imaginierten Bilder ansprechen oder in ihnen
sprechen oder sie fortsetzen und mitgestalten, bieten wir dem Kind Einstellungsalternativen oder sogar Handlungsalternativen an. Bei
Kindern wird die Fantasie durchaus zum künstlerischen Vorstellungsvermögen und zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Gabe des
Schöpferischen besitzt. Fantasie gibt nicht bloß wieder, sondern lässt gänzlich Neues entstehen. Die Fantasie bindet ein enormes Maß
an Energie. Eine Fantasie, die den Lebensnerv des Kindes trifft, setzt also auch entsprechend viel Energie frei. Die Fantasie kommt aus
tieferen Schichten als die Sprache und ist auch lange vor ihr bereits da. Die Fantasie kann veranlassen, dass wir den Kopf verlieren
und trotzdem verhilft sie uns dazu, wieder zu Sinnen zu kommen. Die aufsteigenden Fantasiebilder der Kinder wollen zwischen Körper und
Geist, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermitteln. Sie helfen ihnen, zu sich zu kommen, weil sie ihre Befindlichkeit treffen können.
So haben wir vor einem Jahr einen Jungen aus Ghana bei uns in unserer Familie aufgenommen, mit dem Wunsch ihn zu adoptieren. Damals
war George 1,5 Jahre alt. Meine Frau hat 4 Monate in Ghana mit ihm gelebt, ehe sie gemeinsam nach Deutschland kamen, so dass sie ein
wenig Brücke für ihn sein konnte. Sie ist für ihn ein Stück vertraute Heimat schon dort geworden, ehe sie hierher kamen. Mittlerweile
ist der Junge 2 Jahre und 9 Monate alt. Er spricht immer wieder über seine Heimat in Afrika, über seine Grandma, über die Menschen, die
ihm dort wichtig sind und wir unterstützen das auch. Er hat also zwei zuhause. Wo gehört er hin, diese Frage beschäftigt ihn auf seine
Weise. Zum anderen muss er sich damit auseinander setzen, dass er dunkle Haut hat und die meisten Menschen helle Haut, so auch wir.
Einmal sagte ein anderes Kind zu ihm, du hast aber dunkle Haut, da sagte er, siehst du nicht, (drehte dabei die Handinnenflächen
nach außen) meine Hände sind auch ganz hell. Ein anderes Mal sagt er zu mir, Papa geh weg, du hast helle Haut und weist mich auf den
Unterschied zwischen sich und mir hin, der ihn auch in eine Auseinandersetzung darüber bringt, ob ich überhaupt sein Vater sein kann.
Dies tut er natürlich nicht mit dem Bewusstsein eines Erwachsenen, sondern eher intuitiv, gelenkt von seinen kindlichen Regungen. Immer
wieder frägt er nach, wie er mit meiner Frau nach Deutschland gekommen ist. "Mit dem Flugzeug", lautet regelmäßig die gleiche
Antwort. Plötzlich kommt der kleine Knirps unvermittelt auf uns zu und sagt: "Ich werde Pilot, dann kann ich zwischen Deutschland
und Ghana hin und her fliegen." Seine Fantasie hat in kreativer Weise nach einer Lösung für sein Dilemma gesucht und auch eine
gefunden. Als Pilot kann er die beiden Welten miteinander verbinden, keine geht verloren. Die Angstspannung nimmt mit diesem Bild ab
und die Zuversicht wächst. Auch wenn das Pilotwerden noch eine Weile dauert. Ich habe die Situation gerne aufgegriffen und ihm einen
kleinen ferngesteuerten Hubschrauber geschenkt, der auch von ihm gesteuert werden kann, so dass er aktiv seine Kräfte einsetzen und
schulen kann.
Der Raum der Fantasie ist eigenwillig, er lässt Kinder in sich wohnen, bevor sie noch krabbeln können. Für viele Erwachsenen ist dieser
Raum verschlossen. Sie sind befremdet, wenn die Kinder bildhaft Fantasiertes, Sprudelndes erzählen und von dort her wieder Schritte mit
Leben wagen. Natürlich dürfen wir nicht der Illusion anheimfallen, in dem Raum der Fantasie leben zu dürfen, das mag der eigenwillige
Raum nicht. Wir sollten vielmehr die Fantasie bitten, uns von sich aus an die Hand zu nehmen, um uns durch ihren ganzen Raum zu führen,
damit wir ein Gespür für unsere Möglichkeiten entwickeln können. So entdecken wir, was für die Kinder selbstverständlich ist, nämlich, dass
unsere Seele auch hier wohnt, mit ihren Wünschen, ihren Ängsten, ihren Sehnsüchten und ihren schöpferischen Möglichkeiten. In der
Fantasie weben unsere Kinder an den Bildern ihrer Zukunft. In der Fantasie können sie noch einmal Situationen nacherleben, die sie
schon erlebt haben. Hier können sie sich in andere Menschen hineinversetzen, nachfühlen, wie ihnen zu Mute sein mag. Von hier aus können
sie sich auch veränderte Situationen vorstellen, können sich vorstellen, wie eine Situation verändert werden könnte.
Abenteuerlich ist das Erleben im Raum der Fantasie. Hier verweben sich erlebte Wirklichkeit und der psychische Hintergrund unserer
Kinder zu einem organischen Bilderteppich. Fantasie und Wirklichkeit treten in Dialog und verändern so auch die äußerlich erfahrbare
Welt unserer Kinder. Im freien Raum der Fantasie sind sie die Schöpfer und erfinden ihre eigene Welt, alles fügt sich ihren Wünschen und
Zielen.
Versuchen Sie Reiseführer zu sein für die Expeditionen, die ihre Kinder antreten.
Denn in den Bildern lauern auch Ängste, Befürchtungen, Bedrohungen, denen sich die Kinder stellen müssen, es ist die gleiche
Welt der Fantasie, in der sie auch auftanken. Überwinden Sie die Scheu, die wir Erwachsenen oft vor den Räumen der Fantasie haben,
besuchen Sie Ihre Kinder dort und sind Sie ihnen echte Begleiter, gerade in jener unfassbaren Bilderwelt. Helfen Sie mit, an Bildern der
Hoffnung und Zuversicht zu spinnen, in denen auch immer Trost wartet. Fantasieren und fabulieren sie mit Ihren Kindern. Die Rollenspiele,
die Kinder mit Kindern spielen, sind oftmals eine Fortsetzung der Verschränkung von erlebter Wirklichkeit, psychischem Erleben und
Fantasie. Spielen Sie mit, lassen Sie sich Rollen zuschreiben, haben Sie den Mut auch zu schwachen Rollen, damit sich die Kinder
wenigstens hier im Spiel einmal stark und unverwundbar fühlen können. Kinder sind Weltmeister im Geschichten erzählen und erfinden und
sie lieben es, auch Geschichten erzählt zu bekommen. Sie lieben ganz besonders Märchen, gerade weil sie dort mit den Ängsten konfrontiert
werden, denen sie sich brutal ausgeliefert fühlen: z. B. dem grausamen Ausgesetztsein, vor dem sie sich fürchten oder dem nicht
Geliebtwerden, oder dem Ausgestoßen- und Verlassenwerden, dem Bestraftwerden usw. Im Märchen werden Kinder von Wölfen aufgefressen,
Aschenputtel muss völlig verkannt und in Einsamkeit in Lumpen leben, Kinder werden von einem Jäger im Wald zurückgelassen oder sie finden
sich in der Rolle des Schneewittchens wieder, denn es gehört zu den Urängsten eines jeden Kindes, dass die Mutter es lieber tot als
lebendig haben wollte. Ganz sachlich geht das Märchen an die Probleme heran, macht die Nöte der Helden sichtbar und führt nach vielen
bestandenen Gefahren den Helden auf einer höheren Ebene wieder einer vorläufigen Lösung zu. Lassen Sie sich ein auf die Welt der
kindlichen Bilder und dort, wo es Ihnen schwer fällt, Ihren Kindern eigene Bilder anzubieten, die tragen, greifen Sie einfach auf Märchen
zurück, die fast für alle Lebenslagen Entwicklungswege aufzeigen, die in der Zuversicht enden. Das Märchen bietet für jeden die
richtige Botschaft. Wenn Sie selbst ein Lieblingsmärchen aus der Kinderzeit haben und dieses immer wieder mal über die Jahre gelesen
haben, werden sie bemerkt haben, dass das, was Ihnen daran wichtig ist, sich durchaus wandeln kann. Die Botschaften der Märchen können also
immer wieder andere sein, je nach dem, was wir von unserer Entwicklung her gerade hören können.
"Wer klein ist, fühlt sich wie der wackelige Strohschuppen, der dem Wolf nicht gewachsen ist und ihm doch standhalten soll. Es
braucht zwingend noch die Eltern, die für es sorgen." (die 3 Schweinchen). Eine schöne Botschaft, die von manchen Eltern beherzigt
werden sollte. Bei Hänsel und Gretel haben die Eltern keine Mittel mehr, um für ihre Kinder zu sorgen. Deshalb entscheiden sie sich, ihre
Kinder verschwinden zu lassen. Die Kinder laufen verloren im Wald herum. Am Ende bringen sie sich nach allerlei bestandenen Gefahren
wieder in Sicherheit. "Nicht nur mit Hilfe der Eltern wird man groß, auch die Gefahren und die damit verbundenen Ängste, denen
man unterwegs ausgesetzt ist, führen zu Reife und neuer Wirklichkeit." Auch das eine wichtige Wahrheit des Lebens, die wir beherzigen
sollten.
Kinder lieben Märchen, auch deshalb, weil sie oft von Angst handeln, ohne dass das Märchen das ausspricht. Es ist sogar eher selten,
dass die Angst erwähnt wird. Wenn wir aber ein Märchen hören und uns in seine Bildwelt hinein vertiefen, dann erfasst uns oft eine
Angst um den Helden oder um die Heldin, etwa wenn Schneewittchen immer wieder vergiftet wird oder wenn Hänsel und Gretel allein im Wald
zurückgelassen werden oder wenn die Hexe sie so bitterböse anredet. Indem die Helden die Gefahren und die Bedrohungen überstehen, können
auch wir wieder aufatmen. Wir haben mit dem Helden ein Stück Angst bewältigt. So gesehen gibt es kaum ein Märchen, das nicht von der
Angst handelt. Und von den Märchen her gesehen, die ja immer Wege der Entwicklung darstellen, die aus typischen, menschlichen, scheinbar
unlösbaren Problemen doch zu einem gangbaren Weg führen, muss man sagen, dass jede Entwicklung mit Angst und mit Überwindung von Angst
verbunden ist. Das Schöne am Märchen, gerade auch für die Kinder ist, dass das Märchen hilft, selbstverständliche Zuversicht zu gewinnen.
Dass Angst zum Menschen gehört und den Menschen erst menschlich macht, ist in all jenen Märchen ausgedrückt, in denen einer auszieht, um
das Fürchten zu lernen.
Das Märchen handelt immer von etwas, das den Fortgang des Lebens bedroht – meistens dargestellt in der Ausgangssituation des Märchens -,
und es zeigt, welcher Entwicklungsweg aus diesem Problem heraus - und in eine neue Lebenssituation hineinführt. Wir wissen alle, dass
dieser Entwicklungsweg jeweils auch noch Umwege, Gefahren oder Scheitern in sich birgt. Das sind - jetzt übersetzt - Gefahren, die
unseren Kindern auf ihren Entwicklungswegen genauso drohen, wie den Helden im Märchen. Sie betrachten den Helden im Märchen quasi als
Modellfigur, der durch sein Verhalten eine Problemsituation aushält und den Weg. beschreitet, der nötig ist, um das Problem zu lösen und
seine Angst zu bewältigen.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Kindern viel Spaß beim Bewältigen der kindlichen Ängste, haben Sie den Mut Bergführer zu sein für das
Überwinden der scheinbar unüberwindlichen Angstberge, die ihre Kinder empfinden.
Diesen Auszug aus dem Buch "Kinder bewältigen Angst" wurde uns vom Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt von:
Joachim Armbrust
Praxis für Psychotherapie, Paartherapie, Coaching, Mediation und Prozessgestaltung
Großcomburger Weg 25
74523 Schwäbisch Hall
Tel.: 0791/71552
E-Mail: joachim.armbrust@t-online.de
http://www.Punkt-Genau-Seminare.de
(ab)
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