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PISA-Studie: Einige Schlußfolgerungen und Chancen

Für das was wirklich wichtig ist, ist auch das Geld da. Wirklich wichtig sind vor allem unsere Kinder, betonen politisch Verantwortliche in salbungsvollen Sonntagsreden. Aber am Montag sind Kinder, Kindergärten und Beschäftigte wieder nur noch Kostenfaktoren. Angesichts der Prophezeiung von sinkenden Kinderzahlen ist der gesamte Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder sogar ein immer beliebterer potentieller Sparsektor. Denn für das was wirklich wichtig ist, muss das Geld ja irgendwo herkommen, z.B. für den Transrapid.

Die Ergebnisse der PISA-Studie haben die Bildungs- und Erziehungsleistungen der Kindergärten wieder und mehr in den öffentlichen Blickpunkt gerückt. Land auf, Land ab hat sich ein grosses Wehklagen über die ermittelten schwachen Lernleistungen der 15jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland erhoben. Während sich denkwürdigerweise Politiker aller Fraktionen daraufhin sofort verständigten, dass es an unserem Schulssystem nicht liegen könne, soll das Thema "PISA und die Folgen" nun vor allem im Elementarbereich aufgearbeitet werden. So betonte Bundesfamilienmisterin Bergmann am 15.02.02 in Herford ausdrücklich in diesem Zusammenhang, dass das am "morschen Fundament der Bildungsarbeit in den Tageseinrichtungen für Kinder" liegen müsse, über das die Bundesregierung nun gewillt sei, sich her zu machen. Fast panikartig veranstaltete das NRW-Familienministerium im Rahmen des "Fachpolitische Diskurs" am 14.02.02 in Köln eine Tagung zum Thema "Frühkindliche Bildung im Kindergarten" um, wie Ministerin B. Fischer nicht müde wurde zu betonen, über "Inhalte, nicht über Finanzen und Rahmenbedingungen" zu sprechen. Denn, da sind sich ja alle einig, für das was wirklich wichtig ist, ist auch das Geld da.

Für die Beschäftigten in den Tageseinrichtungen für Kinder werfen sich angesichts dieser Entwicklung vor allem zwei Fragen auf: Wieso ist es möglich die Verantwortung für die von PISA dokumentierten schlechten Lernergebnisse fast unwidersprochen der Bildungs- und Erziehungsarbeit im Elementarbereich aufzubürden? Und welche Allianz betreibt gleichzeitig die Tabuisierung der Diskussion über Finanzen und Rahmenbedingungen der praktisch und täglich geleisteten Arbeit in den Kindergärten, Tagesstätten und Horten?

Keine unwesentlichen Fragen. Vor allem wenn man sich die Folgen der gegenwärtigen aktionistischen und unqualifizierten "Sofortmaßnahmen" vor Augen führt: da sollen ganze Kinderjahrgänge für Einschulungsexperimente zur Verfügung gestellt werden; für die Kindergärten werden Curricular-Versuche angepriesen, mit denen die frühzeitige Auslese von vermeintlich lernstarken und lernschwachen Kindern schon im Elementarbereich forciert wird; verunsicherte Eltern verwechseln Buchstaben- oder Zahleninteresse ihrer Kinder mit Schulfähigkeit; das "Qualitätsmanagement" für Tageseinrichtungen für Kinder wird zu einem Konkurrenzkampf um möglichst viele vorzeitige Schulanfänger. Und im übrigen wird bestätigt, dass die Leistungen der Beschäftigten in eben diesen Einrichtungen sowieso nicht ausreichend sei. Das erklärt dann auch die stupide Borniertheit, mit der viele Verantwortliche reagieren, wenn Erzieher/innen immer wieder auf die viel zu hohen Gruppengrössen, die unzureichende Vorbereitungszeit oder die reduzierte Personalausstattung hinweisen. Darüber spricht man nicht.

Aber man spricht nicht nur darüber nicht; vor allem sprechen verantwortliche Politiker, Träger oder Wissenschaftler nicht mit den Beschäftigten in den Tageseinrichtungen für Kinder. Stattdessen beraten handverlesene Kreise in nicht öffentlichen "Steuerungsgruppen", Referaten oder Lenkungszirkeln z.B. über neue Fördermodelle, Budgetvereinbarungen und natürlich über die Konsequenzen aus dem PISA-Debakel - weit ab von den Niederungen der Praxis, in denen die gemeine Erzieherin nicht müde wird, vor allem Eltern nicht nur den Bildungswert des Spiels im Kindergarten nahezubringen, sondern über die Inhalte der Schulfähigkeit aufzuklären oder die Förderung der Grundkompetenzen im Elementarbereich transparent zu machen. Sicher, für viele Kolleginnen wird dieser Spagat zwischen den pädagogisch-fachlichen Ansprüchen und den, von der ewig jammernden Krämermentalität der jeweiligen Finanzverantwortlichen aller Schattierungen begleiteten, strukturellen Rahmenbedingungen fast unerträglich. Gestiegenen - berechtigt gestiegenen - Ansprüchen an die Fachlichkeit, Flexibilität und "Kundenorientierung" der Tageseinrichtungen für Kinder mit immer eingeschränkteren Ressourcen gerecht werden zu müssen, gelingt ihnen größtenteils trotzdem, wie alle Untersuchungen zur Zufriedenheit der "Nutznießer", d.h. der Eltern, mit "ihrem" Kindergarten ausnahmslos belegen. Trotz dieses Kunststückes; in den entscheidungsrelevanten Gremien und Institutionen stehen die Beschäftigten, die praktischen Fachleute der Elementarpädagogik, außen vor. Denn die postulativ eingeforderte inhaltliche Fachlichkeit ist eben in der Wirklichkeit garnicht gefragt.

Warum? Wer sich die vorgeblichen "fachlichen Verlautbarungen" der diversen Steuerungsgruppen im Ergebnis anschaut, und das ist in allen Bundesländern gleich, wird schnell entdecken, dass hier Sparkommissare, Arbeitgebervertreter und - als Beiwerk drappierte - Honorarwissenschaftler nicht anderes im Sinn haben als Kostensenkungsprogramme auszutüfteln und zu verkaufen. In der der Industriebranche sind solche Zirkel zutreffend als "ReFa-Ausschüsse" (Rationalisierung-Fachleute) längst bekannt. Aber soviel Ehrlichkeit wäre im sozialen Dienstleistungsbereich sicher zuviel verlangt. Ein Beispiel gefällig?

In Nordrhein-Westfalen sorgt sich eine sogenannte "Steuerungsgruppe" aus Fachleuten der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege im Auftrag des Ministeriums um die Existenz der Tageseinrichtungen für Kinder angesichts des demographisch erwarteten Rückgangs der Kinderzahlen. Nach den üblicherweise schwierigen Beratungen präsentierte diese Gruppe im Sommer des letzten Jahres eine "Budgetvereinbarung", die den Kindergärten in NRW weitgehend ermöglicht auch unter 3jährige Kinder und Schulkinder in die 25köpfigen Regelgruppen aufzunehmen. Das damit "nebenbei" der landesweite Standard der kostenintensiveren Betreuungsformen für diese Altersgruppen - kleine alteresgemischte Gruppe und Hort - zumindest mittelfristig zerschlagen bzw. eingespart werden soll, spielte dabei natürlich keine Rolle. Wer darauf hinwies, dass unter 3jährige Kinder und Schulkinder sowohl einen besonderen Betreuungs- als auch einen anderen Erziehung- und Bildungsbedarf haben, als die Ressourcen einer Regelkindergartengruppe vorhalten, wurde mit dem hohen Lied vom "Kinderhaus" für alle Altersgruppen getröstet. Und von Beschäftigten, die altersangemessen Kindergartenkinder zu fördern verstehen, zusätzlich zu erwarten die Kunst der Babypflege zu beherrschen und gleichzeitig Nachhilfeunterricht zu geben, zeugt natürlich nur vom übergroßen Vertrauen in deren fachliche Leidensfähigkeit. Stattdessen die Chance des prognostizierten Bevölkerungsrückganges zu nutzen um endlich die seit 30 Jahren überfällige Reduzierung der Gruppengrößen einzuleiten, war von vornherein nicht vorgesehen.

Während nun hochkompetente Rationalisierungsfachleute auf Grund der Ergebnisse der PISA-Studie mehr oder weniger anklagend die "inhaltliche Bestimmung des Bildungsauftrages des Kindergartens" in den Mittelpunkt ihres Interesses erheben, steht die ungefragte gemeine Erzieherin staunend vor den Ergebnissen von soviel geballter pädagogischer Fachlichkeit der Steuerfrauen und -männer. Oder nicht? Träger von Tageseinrichtungen für Kinder, die unvorsichtigerweise einen Blick nicht nur auf die sog. "Kundenzufriedenheit" sondern auch auf die Zufriedenheit ihrer Mitarbeiterinnen werfen, wagen die Ergebnisse solcher Bestandsaufnahmen nicht mal mehr zu veröffentlichen.

Auch wenn sich in vielen Einzelfragen unter den Beschäftigten so vielfältige Meinungsunterschiede wie im wirklichen Leben auftun, so wird anhand eben dieser Erfahrungen auch immer mehr deutlich, dass die anfangs erwähnten Sonntagsreden über Kinderfreundlichkeit und Kinderrechte nichts weiter als die Begleitmusik beim Abbau der Finanzierungsmittel sozialer Einrichtungen sind. Wie schon erwähnt: Für das was wirklich wichtig ist, ist auch das Geld da.

Schon Benjamin Franklin wußte: Man kann einen immer belügen, man kann alle manchmal belügen aber man kann nicht alle immer belügen. Wer nicht bereit ist in unser Bildungs- und Erziehungssystem ausreichend zu investieren, trägt auch die Verantwortung für die gravierenden Mängel, die durch die PISA-Studie nur bestätigt wurden. Hier wären in erster Linie sowohl die Ursachen als auch die Schlußfolgerungen zu suchen, anstatt über die angeblich beliebige Fachlichkeit und Qualität in den Tageseinrichtungen für Kinder zu schwafeln.

Ein Maßstab für eine ernstzunehmende fachliche Debatte über die Erziehung- und Bildungsarbeit im Elementarbereich ist zum einen die Beteiligung der Fachleute, d.h. der Beschäftigten in den Einrichtungen, zum zweiten die Enttabuisierung aller Finanz- und Strukturthemen in diesem Zusammenhang. Kleinere Gruppen, bessere sachliche und personelle Ausstattung und die Qualifizierung der inhaltlichen Arbeit stehen in einem originären Zusammenhang.

Dieser Zusammenhang wird auch überall dort gesehen, wo die Beteiligten nicht nur einer vorgeblichen Fachlichkeit frönen, sondern wo engagierte Kinder- und Familienorganisationen und Beschäftigte selbst zu Wort kommen. Auch die Beschäftigten in den Tageseinrichtungen für Kinder sind immer weniger bereit die Interessen von Kindern, Eltern und Einrichtungen gegeneinander ausspielen zu lassen. Allerdings - auch diese Beschäftigten selber haben viel zu lange und zu häufig versäumt über den Tellerrand ihrer eigenen Kindergartengruppe oder Einrichtung hinaus zu schauen. In keinem anderen Berufsfeld in Deutschland wäre es denkbar gewesen, die eigenen fachlichen und beruflichen Interessen fast ausschließlich nur durch die eigenen Arbeitgeber vertreten zu lassen; Arbeitgeber die sich zur Tarnung mit der unverfänglicheren Bezeichnung "Träger" titulieren lassen und auch gerne ein "sozial" im Verbandsnamen führen. Nichts desto trotz sind ihre sogenannten Trägerinteressen deshalb nicht automatisch auch das Abbild fachlich notwendiger Positionierung. Auch Kirchen oder Wohlfahrtsverbände beklagen zwar im Chor der Sonntagsredner gerne die mangelnde Kinderfreundlichkeit, aber wenn es dann um die Senkung der Gruppengrössen oder die Personalausstattung ihrer eigenen Einrichtungen geht, ist alles vergessen. Dann geht es nur noch um die Schuldzuweisung für angebliche oder tatsächlich fehlende Finanzierungsmöglichkeiten. Und hier sind sie sich wieder alle einig: Schuld hat immer der Andere. Diesen Schönrednern und Ränkeschmieden die fachliche Vertretung der Tageseinrichtungen für Kinder zu überlassen, grenzt an vorsätzlicher Selbstverstümmelung.

Insofern ist der gegenwärtige Zustand und die aktuelle Debatte, mit der sich die Tageseinrichtungen für Kinder konfrontiert sehen, auch eine Folge eigenen Versagens. Ein umfassendes Versagen als Lobby für Kinder und des eigenen Berufsfeldes. Statt fachlich sehr gute qualitative Leistungen zu bringen und darüber reden, Bündnisse untereinander schließen, sich vernetzen, informieren und zu stärken, Widerstand gegen kinderfeindliche Forderungen zu leisten, Zivilcourrage und laute Stimme üben, wird sich in mehr oder weniger frucht- und furchtbaren Qualitätsdebatten über Kundenorientierung aufgerieben. Statt mit den Vorzügen der eigenen und mit den guten Seiten der anderen Einrichtungen zu werben, die Angebote für Kinder vor Ort bedarfsgerecht untereinander zu ergänzen und aufteilen, diese transparent zu machen und in jeder Weise kollegial zu unterstützen, betreiben immer mehr Einrichtungen - gerne von ihren Trägern angestachelt - einen regelrechten Konkurrenzkampf gegeneinander. Hoffentlich kommt niemand auf den Gedanken nach den Auswirkungen auf das soziale Verhalten der Kinder in diesen Quassel- und Ellenbogen-Einrichtungen zu fragen.

Die Ergebnisse der PISA-Studie kennzeichnen nicht mehr und nicht weniger als den Ist-Zustand unseres Erziehungs- und Bildungssystems. Verantwortlich für diesen Zustand sind in erster Linie alle die, die über das, was wirklich wichtig ist, entscheiden können und müssen. Denn - hatte ich es schon erwähnt? - für das was wirklich wichtig ist, ist auch das Geld da. Und sicherlich sind in der Hirachie der Entscheidungsverantwortlichen die Tageseinrichtungen für Kinder und ihre Beschäftigten nicht vorne zu finden. Ihnen die Verantwortung für die desolaten Lernleistungen von 15jährigen Schülerinnen und Schüler aufbürden zu wollen, ist nicht nur eine Schamlosigkeit sondern auch ein Beleg hochrangigiger fachlicher Inkompetenz. Von den niedrigen Beweggründen ganz zu schweigen.

Was nach PISA bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Zeit der Sonntagsreden und der Gleichgültigkeit abgelaufen ist. Sprüche wie "Kinder sind unsere Zukunft" gelten nicht mehr, wenn sie nicht mit verbindlichen Maßnahmen, sowohl bezügl. der finanziellen, strukturellen und inhaltlichen Verbesserung des gesamten Bildungs- und Erziehungssystems, verbunden werden können. Die Zeit hochwissenschaftlicher Doktorspiele in geheimnisumwitterten Expertengremien ist abgelaufen.

Aber eine Chance zu haben, bedeutet noch nicht, sie auch wirklich zu nutzen. Das wird sich erst noch zeigen. Nicht wir Beschäftigte werden entscheiden müssen, ob für das, was wirklich wichtig ist, auch das Geld da ist. Aber wir sollten zumindest mitreden; auch ungefragt, mit lauter Stimme.

Gerd Detering
- Fachberater für Tageseinrichtungen für Kinder -
Vorsitzender des Fachverbandes für Beschäftigte in Tageseinrichtungen für Kinder NRW, FBTK e.V.
Telefon: 05234-820915
05222-952288 (dienstl.)
Email: gerd@kitanetzwerk.de
 
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Letzte inhaltliche Änderung: 27.12.2002

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