Pyramide - ganzheitliche Frühförderung
Praxiserfahrungsbericht aus Sicht der Erzieherinnen
nach einem Jahr mit Pyramide
Ein in Deutschland neues Spiel- und Lernkonzept für Kindergartenkinder im Alter von drei bis sechs
Jahren, die Pyramide, eröffnet für Kinder, Erzieherinnen und Erzieher sowie Eltern neue Möglichkeiten
zur Verbesserung der Bildungschancen.
Der holländische Schulpädagoge und Psychologe Dr. Jef van Kuyk, führender Mitarbeiter des
niederländischen Cito-Instituts, hat sich seit den 80er-Jahren wissenschaftlich mit der Frage
beschäftigt, wie man Entwicklungsrückstände bei Kindern möglichst frühzeitig erkennen kann und welche
Anregungen Kinder brauchen, um diese Entwicklungsrückstände aufholen zu können.
Dr. Jef van Kuyk hat ein ganzheitliches Bildungskonzept für den Vorschulbereich entwickelt, welches
in Holland bereits in über 1.500 Kindertagesstätten und so genannten Basisschulen erfolgreich eingesetzt
wird. In Deutschland wurden nun im Rahmen eines Pilotprojekts Erfahrungen gesammelt, die Mut machen.
Etwa sechs Wochen vor dem geplanten Start trafen sich 25 ErzieherInnen zu einer 5-tägigen Schulung.
Allein diese Tatsache war für viele von uns schon etwas Besonderes und eine tolle Erfahrung.
Drei praxiserfahrene und sehr fachkompetente Referenten und Referentinnen erläuterten uns zunächst
die Grundprinzipien des Konzepts. So die wichtige Haltung zum Kind: einerseits dem Kind soviel Nähe
wie nötig zu bieten, anderseits Abstand und Distanz zu wahren, um dem Kind sehr viel Selbstständigkeit zu
ermöglichen.
Betont wurde immer wieder, dass jedes Kind ein Recht auf Weiterentwicklung seiner kindlichen Entwicklung
hat. Wichtig war hier die Frage, wie wir die Entwicklung jedes einzelnen Kindes optimieren können.
Die Pyramidemethode unterscheidet in Selbstlernprozesse der Kinder und in Programme, bei denen die
Initiative der ErzieherInnen im Vordergrund steht. Wir erfuhren viel über die Planung und Ausgestaltung
der Spiel- und Lernumgebungen der Kinder. Umso besser die Vorbereitung und Einführung, umso weniger wichtig
ist die Rolle der Erziehungskraft. Es bleibt ihr somit mehr Zeit für Beobachtungen.
Wir haben wieder spielen gelernt!
Spielen heißt auch vor allem Spaß haben. ErzieherInnen sollten auch in diesem Punkt Vorbild sein! Sie
spielen mit den Kindern gemeinsam, geben Impulse, um sie auf ein höheres Spielniveau zu führen.
Häufig bleiben Kinder in einer Spielsituation stecken und wiederholen diese unendlich. Die Möglichkeiten
des Spiels und die damit verbundenen Lernerfahrungen sind dann jedoch nicht ausgeschöpft. Ein kleiner
Impuls von außen genügt und das Spiel wird in einer neuen Dimension fortgesetzt.
Kinder verarbeiten im Spiel sehr viel Emotionen. Kinder - und auch Erwachsene - sind zufrieden, wenn sie
übers Spielen ihre Emotionen ausleben können. Spielen ist gelebte Kreativität. Die Projekte und die so
genannten "kursorischen" (Kleingruppen-)Aktivitäten im Pyramideprogramm können nur unter
diesem Blickwinkel richtig verstanden werden.
Die Schulung befasste sich mit allen Elementen des Pyramideprogramms, dem Tutoring, den Beobachtungen,
den Tests. Alles recht anschaulich in zwei dicken Konzeptordnern zusammengefasst. Drei Monate nach
dem Praxisstart fand noch eine zweite Schulungswoche statt, in der dann inzwischen aufgekommene Fragen
geklärt werden konnten.
Ein neuer Tagesrhythmus wird eingeführt
Jede Gruppe erhielt am Anfang eine große Kiste mit Entwicklungsmaterialien und Infomaterial zu den
Projekten. Die ErzieherInnen packten zum Teil mit den Kindern erwartungsvoll aus. Manche Materialien
waren bekannt, manche nicht. "Wofür verwende ich es? Wo wird es im Gruppenraum platziert?"
Fragen über Fragen, auf die wir gemeinsam Antworten fanden.
Ein Prinzip des Pyramidekonzeptes ist, für alle acht Entwicklungsbereiche der Kinder Funktionsecken
und Arbeitsbereiche bereitzuhalten. So gestalteten wir unserer Räume neu. Eine magnetische Spiel- und
Arbeitstafel zeigt all diese Bereiche, mit Symbolen gekennzeichnet, und die Kinder können sich täglich
mit ihren Namenskärtchen den Ecken und Funktionsbereichen wie beispielsweise der Kunstecke, Bau- und
Konstruktionsecke, Denk- und Rechenecke, Entdeckungsecke oder Haushaltsecke zuordnen.
Das Grundprinzip der Gruppenraumgestaltung bleibt das ganze Jahr über gleich. Die Projektthemen wechseln
etwa 9 bis 10 Mal im Jahr. Durch diese Projektinhalte werden zudem themenbezogene Materialien
eingeführt.
Im Alltag gibt es feste, immer gleiche Abläufe aber auch wechselnde Aktivitäten. Alles Zusammen wird
an Hand von kleinen Schautafeln dargestellt. Diese hängen an einer Art Wäscheleine. Der jeweilige
Ablaufpunkt des Tages, zum Beispiel Frühstückszeit, wird mit einem Symbol gekennzeichnet. Durch die
Visualisierung des Tagesablaufs können die Kinder in die Zukunft schauen und zurückblicken.
Wir waren neugierig: Wie reagieren die Kinder auf alles Neue? Manches war ihnen bekannt, aber vieles
musste neu eingeführt werden. Vorher konnten die Kinder spielen wo und mit wem sie wollten und an jedem
Tisch malen. Jetzt gab es einen Maltisch, einen Spieltisch, eine Sprachecke. Soweit es ging, waren die
Kinder an der Umgestaltung des Gruppenraums beteiligt. Und siehe da, die Kinder nahmen alles schneller
an als wir dachten.
In die Schränke klebten wir die Symbole für die einzelnen Spiel- und Arbeitsmaterialien, die auch
auf der Spiel- und Arbeitstafel vorhanden waren. Die dazu passenden Tische wollten wir ebenfalls
kennzeichnen, aber nach der Besprechung mit den Kindern erübrigte sich das. Sofort wurden die Ecken von
den Kindern in Beschlag genommen.
Besonders unsere jüngeren Kinder profitierten von dieser klaren Strukturierung. Endlich hatten sie
einen Überblick über die Möglichkeiten im Gruppenraum. Sie brauchten nicht mehr die Erzieherin zu
fragen, wo noch etwas frei sei, sondern konnten selbstständig handeln - ein erster Erfolg.
Die Eltern gewinnen
Elternarbeit war in dieser Zeit sehr gefragt. Natürlich gab es einen Informationsabend am Anfang.
Das Konzept wurde von den Eltern positiv aufgenommen. Sie sahen die Förderung ihrer Kinder als wichtig
an. Wer kann auch schon etwas dagegen haben, dass "sein" Kind optimal gefördert wird? Einige
kritische Stimmen gab es allerdings schon, aber da die Kinder zufrieden waren, viel zu Hause erzählten
und auf wundersame Weise sich der Wortschatz bereits nach einigen Wochen erweiterte, waren die Bedenken
schnell verflogen.
Besonders die Eltern-Kind-Stunde einmal monatlich, meist morgens, zwischen 8:00 und 9:00 Uhr, bereitete
Eltern und Kindern viel Freude.
Mit diesem Element des Pyramideprogramms haben wir die Eltern gewonnen. Eltern, die ansonsten kaum bis
gar nicht in den Kindergarten kamen, ließen sich von ihren Kindern die neu gewonnenen Erkenntnisse
vorführen und spielten bis zu 45 Minuten mit ihnen in den verschiedenen Ecken und Funktionsbereichen.
Die Kinder übernahmen die Regie! Sie genossen es, zusammen in der Gruppe, mit andern Eltern und anderen
Kindern zu spielen und auszuprobieren. Bevor diese Stunde das erste Mal angeboten wurde, waren wir
ErzieherInnen sehr aufgeregt. Wie wird das angenommen? Kommen die Eltern überhaupt? - Und wie sie kamen.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Kinder die Eltern mitbringen, ja sie sogar auffordern zu
kommen.
Zu Anfang waren die Eltern im Spielverhalten noch sehr zögerlich, aber das legte sich schnell. Sie
schauen jetzt schon nach den nächsten Terminen.
Die Beteiligung der Eltern brachte auch materielle Vorteile! Zahlreiche Spenden der Eltern für die
Projekte und Materialien wie beispielsweise Computer gingen seitdem bei uns ein.
Evaluation - was ist das?
Oh je! Aufregung entstand im Team - zum Programm gehören auch Tests. Was sind das für Tests? Sind
sie zu schwer für die Kinder? Wie gehen die Kinder damit um? Kann man das Wort "Test" überhaupt
vor den Kindern aussprechen? Für viele von uns war an dieser Stelle Skepsis angesagt. Vorurteile rasten
durch unsere Köpfe - Vergleichstest, Leistungsdruck, Schule im Kindergartendenken, Elternerwartungen
usw.
Die Tests am Computer erfolgen 2-mal jährlich. Kinder ab 4 Jahren nehmen daran teil, für die Jüngeren
wird der Test auf Papier durchgeführt. Die Eltern müssen hierzu schriftlich ihre Zustimmung geben. Der
Datenschutz ist einzubeziehen.
Aber wie gewohnt: Unsere Bedenken waren umsonst. Die Eltern gaben ihre Zustimmung und die Kinder
drängelten sich geradezu, um die Tests am Computer machen zu dürfen.
Jedes Kind hatte drei Tests innerhalb von zwei Wochen zu absolvieren, viele Kinder waren enttäuscht
als, die Testphase vorbei war. Den Kindern, die noch keine Erfahrung am Computer hatten, halfen wir, in
dem wir die Maus führten. Dabei viel es uns besonders schwer, keine Tipps oder Hilfen zu geben, wenn
wir sahen, dass die Antwort falsch war. Andere Kinder saßen alleine vor dem Computer und führten den
Test durch.
Pünktlich konnten die Disketten dann nach Holland zur Auswertung geschickt werden. Nun warteten wir
mit Spannung auf die Testergebnisse.
Ein Monat des Wartens, dann waren sie endlich da. Unsere Kinder hatten ganz gut abgeschnitten. Es
gab auch Überraschungen. Wir entdeckten durch die Tests bei Kindern Dinge, die vorher im Alltag nicht
aufgefallen waren. Zum Teil waren es positive Erkenntnisse, aber auch Förderbedarf in einzelnen
Entwicklungsbereichen.
Der Test brachte uns folgende Vorteile:
- Wir können unser pädagogisches Handeln und gezielte Hilfestellung dort ansetzen, wo
Entwicklungspotential gesehen wird.
- Wir können unsere eigenen Beobachtungsinstrumente auf Stimmigkeit überprüfen, Abweichungen
müssen erklärbar sein.
- Wir haben eine objektive Basis für ein Entwicklungsgespräch mit Eltern, welches auch und
gerade die Stärken betont.
Spiel- und Projektideen
Beim Pyramideprogramm wird das Grundprinzip der Gruppenraumgestaltung immer beibehalten, nur die
Themen wechseln. 9 bis 10 Projektthemen werden in einem Jahr ein- und durchgeführt, wobei sich
die Ausgestaltung der Ecken und Funktionsbereiche jeweils diesen Themen anpassen.
Die Projekte greifen generative Themen der Kinder und ihrer Umgebung auf, beispielsweise Frühling, Farbe
und Form, Raum und Zeit, und beinhalten jeweils eine Reihe von Grundlagen und Wörter, welche die Kinder
spielerisch in all ihren Handlungen einüben und wiederholen. Dieser sprachfördernde Aspekt macht den
Kindern viel Spaß. Die Inhalte der Projekte sind auf drei Entwicklungsphasen der Kinder zugeschnitten.
Die 3- bis 4-Jährigen, die 4- bis 5-Jährigen und die 5- bis 6-Jährigen Kinder werden jeweils mit
alters- und entwicklungsgemäßen Differenzierungen angesprochen. Die Spiel- und Projektideen
sind sehr praxisnah in Handbüchern beschrieben, wobei es uns ErzieherInnen frei steht, auch weitergehende
Materialien und Handlungen situativ einzusetzen.
Die Projektthemen wechselten alle drei bis vier Wochen. Unser erstes Thema "Mein Körper"
war bis jetzt das schwerste für uns. Wir mussten uns in die Arbeitsmittel in Form der Projekthefte
einlesen. Sie dienen zur systematischen Strukturierung der Themen und sind im Aufbau immer gleich.
Wir hatten zunächst den Anspruch, den gesamten Inhalt aller Hefte mit den Kindern durchzuarbeiten, um
allen Kindern gerecht zu werden. Wir mussten aber lernen, nicht in Hektik zu verfallen und unter Druck
zu geraten, sondern alles ruhig anzugehen und bewusst eine Auswahl zu treffen, die dem Entwicklungsstand
der Kinder in der Gruppe gerecht wurde.
Es fiel sehr schwer, Themen auszugrenzen, aber von Projekt zu Projekt wurden wir routinierter. Wir
sammelten vorher schon Materialien für die neuen Themen und die Umgestaltung der Ecken. Den Kindern
bieten wir damit neue Erfahrungsbereiche, wecken ihre Neugier und befriedigen ihren Forscherdrang.
"Rote-Punkt-Zeit": Störungen unerwünscht!
Nach einigen Monaten wagten wir uns auch an die Rote-Punkt-Zeit. Was ist das? Wir haben es so
genannt, weil in dieser Zeit, etwa für 30 bis 60 Minuten, ein roter Punkt an der Gruppentür hängt,
der bedeutet: bitte nicht stören.
Die Gruppe arbeitet intensiv an einem Thema oder die Kinder wählen frei in welchen Ecken sie spielen
möchten. Erwachsene, auch Eltern und Kinder anderer Gruppen sind dann unerwünscht, müssen draußen
bleiben.
Wir ErzieherInnen haben in dieser Zeit auch die Möglichkeit, intensiv zu beobachten und eventuell
das Spiel der Kinder durch einen kurzen Impuls auf ein höheres Niveau zu bringen und zu vertiefen.
Es fiel den Eltern, Küchenfrauen und anderen ErzieherInnen am Anfang schwer, sich an die Rote-Punkt-Zeit
zu halten und das Gruppengeschehen nicht zu stören. Diese Zeit ist auch immer noch ein Diskussionspunkt
in unseren Dienstbesprechungen. Wie und wann wenden wir diese Zeit an? Dass sie eine ruhigeres,
intensiveres Arbeiten mit den Kindern ermöglicht, ist allen klar. Dennoch sind Fragen offen, welche
sich aber im Team klären lassen.
Es gibt auch noch den roten Punkt für die Erziehungskraft, den sie sich anheften oder umhängen kann.
Damit signalisiert sie, dass sie im Moment, etwa 10 Minuten, nicht gestört werden möchte, weil sie
beispielsweise etwas vorbereitet oder beobachtet.
Fazit
Wir arbeiten nun ein Jahr mit Pyramide. Vieles gäbe es noch zu berichten. Wer mehr erfahren möchte,
kann sich gerne an uns wenden, unsere Kita steht als Hospitationseinrichtung zur Verfügung.
Im Rahmen einer Auswertung mit allen Pilotkindertagesstätten wurde der Nutzen der Pyramidemethode für die
Kinder zusammengefasst, folgende Einschätzungen und Erfahrungen kamen dabei raus:
- Viele Spielaktivitäten werden neu entdeckt.
- Kinder werden als eigenständige, eigenverantwortliche Persönlichkeiten systematisch beobachtet und
ihr Entwicklungstand regelmäßig überprüft, Stärken und Schwächen werden frühzeitig erkannt.
- Jedes Kind wird gefördert, unabhängig seiner sozialen Herkunft und seiner körperlich und geistigen
Entwicklung.
- Kinder sind aktiv und ergreifen die Initiative. Kinder lernen selbstständig Entscheidungen
zu treffen. Durch die reiche Spiel- und Lernumgebung wird jeweils auf vorhandenes Wissen aufgebaut.
- Kinder entwickeln eine Lust am Lernen, ein Interesse an Wörtern und Zahlen, an Büchern
und an Experimenten.
- Kinder erleben eine intensive Begegnung mit "Zeit", der Tagesablauf ist für Kinder transparent
und nachvollziehbar.
- Kinder nehmen die Arbeitsmittel gerne an und nutzen die Gestaltungs- und Freiräume.
Bericht von
Harald Engelhard, Dipl.-Päd.
Dagmar Hild, Kitaleiterin
Heike Marx, Erzieherin
Nadine Rogers, Erzieherin
Weitere Informationen und Kontaktaufnahme unter:
Cito - Deutschland GmbH
Angela Gaul
Schlossstrasse 10
35510 Butzbach
Telefon: (0 60 33) 74 63 00
http://www.cito.com
und bei:
Biqu - Agentur für Bildungsfragen und Qualitätsentwicklung in Tageseinrichtungen für Kinder
E-Mail: biqu_engelhard@yahoo.de
(ab)
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