Wundermittel mit Breitbandwirkung?
Grundlagen der Psychomotorik
Renate Zimmer
Es hat sich mittlerweile in unserer Gesellschaft eingebürgert, daß wir für jedes Problem
eine spezielle Therapie haben: bei Sprachschwierigkeiten, gegen Konzentrationsmangel,
zur Behebung von Bewegungsauffälligkeiten, für das hyperaktive wie für das
gehemmte und ängstliche Kind. Für jedes Abweichen vom Normalverhalten gibt es
ein Programm, so wie es für jeden Schmerz das entsprechende Medikament gibt. Auch
in sozialpädagogischen Einrichtungen ist dies nicht anders. Und mit einem
Bereich verknüpfen sowohl ErzieherInnen als auch Eltern eine ähnliche
Erwartungshaltung: gemeint ist die Psychomotorik. Aber, bei der Psychomotorik
handelt es sich sicherlich nicht um ein Wundermittel mit Breitbandwirkung, das
im großen Rundumschlag das Kind zum Funktionieren auf allen Ebenen bringen
will.
Was ist Psychomotorik?
Oft sind es die rein äußeren Merkmale, von denen darauf geschlossen wird, ob ein
Bewegungsangebot nun ein psychomotorisches ist oder nicht. So vermuten
beispielsweise zwei Erzieherinnen in einem Gespräch: "Psychomotorik, das hat
doch was mit diesen Pedalos und den bunten Rollbrettern zu tun. Ja,
Psychomotorik machen wir auch, wir haben uns erst vor kurzem Rollbretter und
ein Schwungtuch angeschafft. Ein anderes Beispiel dafür, was unter
Psychomotorik verstanden wird: Zwei Studenten in einem Seminar zur
Psychomotorik an der Universität stellen eine Übungseinheit zur
psychomotorischen Praxis vor. Mit viel Engagement und schriftlich
ausgearbeiteten Unterlagen beschreiben sie den Weg zum Pedalofahren, so wie es
in den Methodikbüchern zur Vermittlung sportlicher Fertigkeiten nachzulesen
ist. Als krönenden Höhepunkt führen sie zum Schluß einen Handstand auf dem Pedalo
vor. Die beiden Beispiele zeigen, daß viele Leute glauben, wenn sie mit
psychomotorischen Geräten arbeiten, genüge das. Aber erst, wenn diese in das
Konzept der Psychomotorik eingebunden werden, ist beantwortet, was
Psychomotorik ist, nämlich ein ganzheitliches Konzept zur Entwicklungsförderung
durch Bewegung.
Zusammenwirken von Körper, Geist und Gefühlen
Die Psychomotorik orientiert sich an der Grundannahme, daß
Persönlichkeitsentwicklung immer ein ganzheitlicher Prozeß ist: Psychische und
physische Bereiche sind so miteinander verschränkt, daß jede Einwirkung auf
einen Bereich der Persönlichkeit gleichzeitig auch Auswirkungen auf den anderen
hat. Körper- und Bewegungserfahrungen sind daher immer auch Selbsterfahrungen.
So sagen beispielsweise die körperliche Haltung oder die Art und Weise, wie man
sich bewegt, einiges über den seelischen oder emotionalen Zustand aus, in dem
sich die Person befindet. Auch bei Kindern ist dies so. Bewegungshandlungen
beeinflussen nicht nur ihre körperlich-motorischen Fähigkeiten, gleichzeitig
wirken sie sich auch auf ihre Einstellung zum eigenen Körper, auf das Bild von
den eigenen Fähigkeiten, auf die Wahrnehmung der eigenen Person aus. Die
körperlichen, seelischen, emotionalen und rationalen Vorgänge sind bei ihnen
noch besonders eng miteinander verbunden, die Ganzheitlichkeit im Handeln und
Erleben ist bei ihnen besonders stark ausgeprägt. Sie nehmen Sinneseindrücke
mit dem ganzen Körper wahr, drücken ihre Gefühle in Bewegung aus. Sie reagieren
auf äußere Spannungen mit körperlichem Unwohlsein und ebenso können freudige
Bewegungserlebnisse zu einer körperlich wie psychisch empfundenen Gelöstheit
führen. Man kann ihnen ihre Ganzheitlichkeit regelrecht ansehen: Sie freuen
sich "bis in die Füße", spüren ihre Traurigkeit "im Bauch".
Beobachtet man genau, können so Bewegungsäußerungen eines Kindes durchaus einen
Zugang zu seiner Innenwelt eröffnen, uns Aufschluß geben über seine psychische
Befindlichkeit, über Prozesse, die es unter Umständen sprachlich nicht
ausdrücken kann oder will, die aber zum Verständnis seiner Probleme von
wesentlicher Bedeutung sind. Dieses enge Zusammenspiel zwischen körperlichen
Vorgängen und emotionalen bewirkt auch, daß über Bewegungsspiele eine
Kontaktaufnahme erleichtert werden kann. Im Vergleich zu Erwachsenen reagiert
das Kind auf Bewegungsangebote normalerweise unmittelbarer und spontaner, läßt
sich leichter zu Aktivität anregen und zum Mitmachen herausfordern. Kindliche
Entwicklung - so läßt sich zusammenfassend feststellen - ist also zugleich auch
immer psychomotorische Entwicklung. Psychomotorische Erfahrungen sind
Erfahrungen, die das Kind mit seinem Leib und seiner Seele, seiner ganzen
Person macht. Streng genommen gibt es gar keine Bewegung ohne Beteiligung
psychischer oder gefühlsmäßiger Prozesse. Der Ausdruck "psychomotorisch"
kennzeichnet also die funktionelle Einheit psychischer und motorischer
Vorgänge, die enge Verknüpfung des körperlich-motorischen mit dem
geistig-seelischen Bereich. Unter dem Begriff "Psychomotorik" versteht man
das Konzept der Entwicklungsförderung durch Bewegung, das zwar in der
therapeutischen Arbeit mit behinderten Kindern entstanden ist, heute aber auch
über diese Zielgruppe hinaus erfolgreich in Kindergärten, Schulen und
heilpädagogischen Institutionen eingesetzt wird und zunehmend Verbreitung
findet.
Zur Entwicklung der Psychomotorik
Geprägt hat die Psychomotorik vor allem Ernst J. Kiphard, der versuchte, in die Therapie
behinderter, verhaltensauffälliger und entwicklungsgestörter Kinder Bewegung
als therapeutisches Mittel zu integrieren. So entstand in der
klinisch-heilpädagogischen Praxis die sogenannte "psychomotorische
Übungsbehandlung". Zum ersten Mal wurde hier beispielsweise das Trampolin
als ein bewegungs- und koordinationsschulendes Gerät eingesetzt und seine
bewegungsdiagnostischen Möglichkeiten genutzt. Im Lauf der Zeit haben sich
Anwendungsgebiete und Inhalte erweitert. Aufgrund der in der praktischen Arbeit
mit Kindern beobachteten positiven Auswirkungen bewegungsorientierter
Fördermaßnahmen auf die gesamte Entwicklung von Kindern wurde sie nicht nur
rehabilitativ, sondern auch als Prävention eingesetzt. Bekannt wurde die
Psychomotorik auch durch spezifische, die Wahrnehmung und das Gleichgewicht
ansprechende Geräte wie Pedalos, Balancierkreisel und Rollbretter, die zunächst
zur Förderung entwicklungs- und bewegungsauffälliger Kinder bestimmt waren,
dann aber zunehmend auch in die Sport- und Bewegungserziehung integriert
wurden. Aber: Die Verwendung eines Schwungtuches oder das Spiel mit einem
Zeitlupenball machen ein Bewegungsangebot noch nicht zur psychomotorischen
Erziehung. Zwar haben diese Materialien die Vielfalt der kindlichen
Bewegungserlebnisse erheblich bereichert, viel wichtiger als der Einsatz
bestimmter Geräte ist jedoch die Art und Weise, wie Kinder sie entdecken und
mit ihnen umgehen können, in welchem Sinnzusammenhang die Bewegungsangebote für
sie stehen, wie sie sich selbst im Umgang mit ihnen erleben. Heute findet die
Psychomotorik in unterschiedlichen Handlungsfeldern Einsatz: In der Frühförderung
und in Kindertagesstätten kann sie z.B. als Grundlage jeglicher
Entwicklungsförderung gelten, in der Grund- und Sonderschule hat sie nicht nur
den Sportunterricht verändert, sondern wird zunehmend auch fachübergreifend als
Arbeitsprinzip verstanden.
Ziele und Inhalte der Psychomotorik
Während sich die Medizin in erster Linie auf die Behebung körperlich-muskulärer Störungen
konzentriert und die psychotherapeutischen Verfahren vor allem auf das
Seelenleben ausgerichtet sind, wendet sich die Psychomotorik an jene
Überschneidungsbereiche, in denen die wechselseitge Beeinflussung von Bewegung,
Wahrnehmung, Verhalten und Selbsterleben deutlich werden. Ziel
psychomotorischer Förderung ist es, die Eigentätigkeit des Kindes zu fördern,
es zum selbständigen Handeln anzuregen, durch Erfahrungen in der Gruppe zu
einer Erweiterung seiner Handlungskompetenz und Kommunikationsfähigkeit
beizutragen. Im Vordergrund stehen hierbei erlebnisorientierte
Bewegungsangebote, die dem Kind die Möglichkeit geben, eine positive Beziehung
zu seinem Körper und damit zu sich selbst aufzubauen, die seine Beziehung zu
anderen fördern und durch die Erfahrung, selbst wirksam sein zu können, die
Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes unterstützen. Zu den Inhalten der
Psychomotorik zählen
- Körper- bzw. Selbsterfahrungen wie Wahrnehmung und Erleben des
eigenen Körpers, Sinneserfahrungen, Erfahren der körperlichen
Ausdrucksmöglichkeiten
- Material-Erfahrungen wie sich mit den räumlichen und dinglichen Gegebenheiten
der Umwelt auseinandersetzen, sich den Gesetzmäßigkeiten der Objekte anpassen
bzw. sie sich passend machen, erkundendes und experimentelles Lernen über
Bewegung
- Sozialerfahrungen wie Kommunikation mit anderen über Bewegung,
- Regelspiele mit selbst erstellten bzw. auf die Situation
abgestimmten Spielregeln, Spielen mit- oder gegeneinander
Erlebnisreiche Bewegungsangebote zur Förderung der sinnlichen Wahrnehmung gehören zu den
grundlegenden Inhalten psychomotorischer Erziehung. Wahrnehmungsförderung muß
allerdings nicht die Form eines Funktionstrainings annehmen, im Sinne
psychomotorischer Förderung sollte sie eher in erlebnisreiche Bewegungsangebote
oder spannende Spielhandlungen eingebunden werden.
Motopädagogik und Psychomotorik - eine Begriffsklärung
Zu dem Begriff Psychomotorik gesellte sich im Lauf der Zeit der der "Motopädagogik. Zunächst
schien er ihn zu ersetzen, heute werden jedoch beide gleichrangig, wenn auch
nicht immer gleichbedeutend gebraucht. Der Begriff "Moto-pädagogik entstand im
Zusammenhang mit der Professionalisierung der Psychomotorik. Die Erfolge, die
die psychomotorische Förderung in der Praxis erzielte, führte zur Etablierung
des Berufsfeldes von Motopäden und Motologen. So werden seit 1977 in einer
Berufsfachschule für Bewegungstherapie Motopäden und seit 1986 an der
Universität Marburg Diplom-Motologen ausgebildet. Im Zusammenhang mit der
Konzeption dieses Aufbaustudiengangs wurde die "Motologie, das ist die Lehre
von der Motorik als Grundlage der Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit des
Menschen, ihrer Entwicklung, ihrer Störungen und deren Behandlung, als
Oberbegriff eingeführt. Als Anwendungsbereiche gelten Motopädagogik und
Mototherapie: Motopädagogik wird dabei als ganzheitlich orientiertes Konzept
der Erziehung durch Wahrnehmung, Erleben und Bewegen verstanden, die
Mototherapie gilt als "bewegungsorientierte Methode zur Behandlung von
Auffälligkeiten, Retardierungen und Störungen im psychomotorischen Verhaltens-
und Leistungsbereich (Schilling 1986, S. 728). Im Gegensatz zu den
Bezeichnungen Motopädagogik und Mototherapie ist der Begriff Psychomotorik
historisch gewachsener, international gebräuchlicher und letztlich inhaltlich
auch klarer definiert. Er hat sich deswegen in der Vergangenheit wieder stärker
durchgesetzt. D.h. daß auch eine Motopädin oder ein Motologe auf der Grundlage
der Psychomotorik arbeiten.
Dr. phil. Renate Zimmer, Professorin an der
Universität Osnabrück, ist Sportlehrerin und Diplompädagogin. Sie ist bekannt
durch zahlreiche Veröffentlichungen zur kindlichen Entwicklungsförderung und
arbeitet selbst regelmäßig mit Kindern im vorschulischen Alter.
Literaturhinweise:
- Beudels, Wolfgang u.a.: "das ist für mich ein
Kinderspiel". Handbuch zur psychomotorischen Praxis. borgmann
publishing, 6. Aufl. 1999
- Herm, Sabine: Psychomotorische Spiele für
Kleinstkinder in Krippen. Luchterhand, 10. Aufl. 1997
- Kiphard Ernst J.: Motopädagogik. modernes
lernen, 8. verb. und erw. Aufl. 1998
- Regel, Gerhard / Wieland, Axel
(Hrsg.): Psychomotorik
im Kindergarten. Eine Arbeitshilfe von Erziehern für Erzieher. EBV 1984
- Zimmer, Renate: Kreative Bewegungsspiele.
Herder, 10. Aufl. 1998.
- Dies.: Handbuch der Sinneswahrnehmung.
Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. Herder 1999a
- Dies.: Handbuch der Psychomotorik.
Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Herder
1999b.
Gerd Detering
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